Im Land der Träume

Finn wachte auf. Er schaute sich um und brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass er sich nicht mehr in der gerade noch gewohnten Umgebung befand. Den Kopf drehte er nach links und nach rechts und sah sein immer gleiches Bett unter sich. Die Decke zurückgeschlagen, das Kissen zerknautscht.

Er sah zum Fenster, das wie immer keinen Blick nach draußen zuließ. Aber er konnte den Mond durch die Ritzen des Rollos scheinen sehen. Es musste also noch Nacht sein. Wie kam er wieder hierher? Vor Kurzem war er noch bei den witzigen Clowns, die vor einer Kinderschar wundersame Kunststücke vorführten. Sie hatten Luftballons dabei und knoteten lustige Figuren daraus. Die anderen Kinder waren auch total begeistert. Obwohl Finn sich nicht mehr an ihre Gesichter erinnern konnte.

Waren dort überhaupt noch andere gewesen? Ihn beschlich ein Gefühl und verwundert öffnete er die Augen, aber gleich darauf war es wieder egal. Er legte sich in seinem Bett zurecht, kuschelte sich in die Decke ein und versuchte zu schlafen. Ehe er sich versah, begann es jedoch zu dämmern und Finn stöhnte auf. Er musste heute wieder in die Schule.

Finn ging nicht gern zur Schule. Die anderen mochten ihn nicht, das wusste er. Er ging auf das Schulgebäude zu, während sie ihn anstarrten. Wenn er seine Schulkameraden begrüßte, grüßten sie ihn nicht zurück und gingen an ihm vorbei. Selbst sein einstiger Freund hatte vor ein paar Wochen den Sitzplatz gewechselt.

Finn verstand bis heute nicht, warum. Wenn er ihn fragte, bekam er keine Antwort. Manchmal zuckte Nick mit den Schultern, das war es aber auch schon. Finn wusste nicht, was er falsch gemacht hatte. Er hatte nur von seinen Ideen erzählt. Die Welten, die er sich nachts im Traum erschuf oder die er während der Heimfahrt von der Schule besuchte.

Auch an diesem Tag passierte Finn die Korridore und das Klassenzimmer, ohne dass ihn groß jemand bemerkte. Nur hin und wieder fing er einen abschätzigen Blick ein. Er setzte sich und legte seine Hefte und Stifte auf den Tisch. Die Lehrerin kam kurz darauf und der Unterricht begann. Das Thema war nicht sonderlich spannend und Finn hörte nur mit halbem Ohr zu.

Viel spannender fand er es, sich vorzustellen, wie die Lehrerin mit riesengroßen Elefantenohren aussehen würde. Er verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte seinen Kopf darauf. Dann konzentrierte er sich und der Lehrerin wuchsen plötzlich riesengroße Elefantenohren! Sie hingen ihr etwas über die Schultern und machten Schlabbergeräusche, sobald sie sich bewegte. Finn musste sich das Lachen verkneifen. Auch das Mädchen, das sich eben neben ihn gesetzt hatte.

Finn bemerkte sie zunächst nicht. Erst als es sie vor Lachen schüttelte, drehte er seinen Kopf erstaunt zur Seite. Da saß ein blondes Mädchen. Sie hatte ein altmodisches Kleid an und eine Schleife im Haar. Vergnügt schaute sie Finn in die Augen, bevor sie den Zeigefinger an den Mund legte. Finn nickte grinsend und drehte sich wieder in Richtung Tafel. Als er wieder neben sich schaute, war das Mädchen verschwunden.

Finn runzelte die Stirn und blickte verwundert um sich. Aber auch an den anderen Tischen konnte er sie nicht entdecken. Seltsam. Er drehte sich wieder zur Tafel. Die Elefantenohren waren verschwunden und Finn fügte sich dem Unterricht.

Den Abend und die Nacht verbrachte Finn in seiner eigenen Welt. Erst spazierte er durch ein Feld voller Zuckerwatte. Der Boden war vollkommen mit der Süßigkeit bedeckt. Sie klebte an Finns Füßen und kitzelte ihn. Während er hindurchwatete, pflückte er Gummibären von den Zuckerstangen, die alle paar Meter aus dem Boden wuchsen.

Finn ging immer weiter, bis er vor einem Haus stehen bleiben musste. Es zählte einige Stockwerke. Finn musste den Kopf in den Nacken legen, um es ganz sehen zu können. Ein Fenster stand offen und ein fröhliches Kichern drang heraus.

Neugierig näherte Finn sich dem Haus und ging hinein. Statt mehreren Räumen präsentierte sich ein großes, hohes Spielzimmer. In einer Ecke standen riesige Teddybären. Eine Eisenbahn umfuhr mehrere Bauklötze. Eine Kugelbahn wand sich mehrere Meter hoch an einer Treppe, an der ein paar Meter weiter eine Rutsche befestigt war. Die Mitte des Raumes nahm ein großes Karussell ein.

Zu Spieluhrmusik drehte es sich im Kreis. Immer wieder passierten ein Pony, ein Nilpferd, ein Affe, ein Elefant und ein Esel Finns freudestrahlendes Gesicht. Und wieder hörte er ein glockenhelles Lachen. In diesem Moment drehte sich das blonde Mädchen auf dem Pony an ihm vorbei.

„Hey!“, rief Finn.

Das Mädchen lachte nur und bedeutete ihm, bei der nächsten Runde mit einzusteigen. Finn zögerte nicht lange und stieg auf das Nilpferd. Das Mädchen sprach nichts. Es lachte nur und quiekte vor Freude, während sie auf dem Pony turnte, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt. Finn tat es ihr nach und so turnten sie auf dem Karussell und lachten dabei so herzhaft, bis ihnen von den Umdrehungen schwindelig wurde.

Finn musste sich setzen. Das Mädchen ebenfalls. Schwer atmete sie. Mit einer Hand hielt sie sich die Augen zu, lachte dabei aber.

„Ich find’s schön, dich zu sehen“, sagte Finn. „Wo warst du heute Mittag?“

Das Mädchen grinste und schüttelte den Kopf. Finn wusste nicht, was er damit anfangen sollte.

„Kannst du nicht sprechen?“, fragte er. Und wieder schüttelte sie den Kopf.

„Wie heißt du?“, fragte Finn weiter, weil er nicht wusste, wie er dieses Kopfschütteln deuten sollte.

Verstohlen sah sich das Mädchen um und kam näher. Mit ihrem Mund an Finns Ohr flüsterte ganz leise „Lina“. Doch Finn vernahm es eher als innere Stimme. Als hätte sie es ihm in Gedanken gesagt oder er hätte es plötzlich einfach so gewusst.

„Das ist ein schöner Name“, antwortete Finn.

Das Mädchen grinste und nickte. Dann stand sie auf, nahm Finn bei der Hand und zog ihn mit sich. Hinter einem Riesenplüschbär verbarg sich eine rote Tür. Finn fragte sich, wohin sie führen mochte. Lina zog ihn mit sich und nur Sekunden später befanden sie sich in einem Meer aus Kaugummiblasen.

In allen möglichen Farben präsentierten sie sich und wogen wie Wellen auf und ab. Lina rannte drauf los und sprang mitten in eine rosafarbene Kaugummiblase hinein. Einige Sekunden war sie nicht zu sehen, bevor sie wie ein Flummi nach oben schnellte. Glockenhell erklang ihr Lachen und sie winkte Finn zu sich, es ihr gleich zu tun. Auch Finn nahm nun Anlauf und sprang in die lilafarbene Blase hinein.

Zuerst tauchte er ein in die zähe Masse, bevor er mit voller Wucht in die Höhe geschleudert wurde. So hüpften sie von Blase zu Blase und lachten vor Freude. Wenn sie zusammen auf einer anderen Blase landeten, wurden sie nur mit noch mehr Wucht in die Höhe geschleudert und Lina kreischte vor Vergnügen.

Doch nach einer Weile begannen die Kaugummiblasen nicht mehr so elastisch zu sein. Sie verloren immer mehr an Sprungkraft und schließlich platzte die grüne, auf der Finn gerade hüpfte und er fiel unsanft zu Boden. Lina erschrak, denn auch sie fiel auf den mit Teppich ausgelegten Boden. Schnell rappelte sie sich auf und zog Finn mit sich. Panik lag nun in ihren Augen.

„Was ist Lina?“, rief Finn hinter ihr.

Doch sie schüttelte nur den Kopf, legte den Zeigefinger wieder an ihren Mund.

„Müssen wir still sein?“, fragte Finn weiter.

Lina nickte nur. Die Freude in ihren Augen wich nun tiefster Traurigkeit. Immer wieder legte sie den Zeigefinger vor den Mund und schaute sich dabei um.

„Was ist denn los?“, fragte Finn.

Lina reagierte nicht darauf. Sie schob Finn von sich weg, hin zu einer Art Tor, das in einen schönen Garten führte. Zum Abschied gab sie ihm einen Kuss auf die Wange. Und Finn war es abermals, als spräche sie in Gedanken zu ihm. „Du darfst nicht hier sein, noch nicht.“

Finn verstand nicht, doch Lina riss sich von ihm los und schob ihn hinaus. In diesem Moment erwachte Finn schweißgebadet in seinem Bett.

Tage vergingen und Finn sah Lina nicht wieder. Immer wieder dachte er über das witzige Spiel mit den Kaugummiblasen und das abrupte Ende nach. Warum durften sie nicht miteinander spielen? Warum durften sie nichts reden? Und warum kam sie nicht mehr in die Schule?

Wenn Finn jetzt träumte, war es nicht mehr wie zuvor. Die Blumen ließen die Köpfe hängen, die Clowns hatten schreckliche Fratzen, statt Karussells gab es Geisterbahnen und von den Süßigkeiten bekam er Bauchweh. Was war nur passiert mit seinem Traumland?

Seine Klassenkameraden beachteten ihn nur noch weniger. Sie würdigten ihm nicht mehr eines seltsamen Blickes. Es war fast, als gäbe es ihn nicht. War es das? Gab es Lina dann auch nicht? Es war eine Erklärung, warum er sie nicht mehr sah. Aber keine Erklärung, warum er erlebte, was er erlebte. Immer wieder grübelte er und seine Bilder wurden immer düsterer.

Eines Tages jedoch, während der großen Pause, hörte er sie. Er stand wie immer abseits, weil keiner mit ihm spielen wollte und plötzlich war es da. Dieses glockenhelle Lachen, das nur Lina gehören konnte. Irgendwo hier zwischen den anderen musste sie sein. Er suchte jedes Grüppchen ab, doch konnte er sie nicht finden. Da hörte er es wieder. Weit von ihm entfernt stand sie mit ein paar anderen Kindern. Ihre blonden Haare waren mit einer Schleife zusammengebunden, ihr Kleid war genau dasselbe wie zuvor. Sie stand mit den anderen größeren und kleineren Kindern und winkte ihm zu. Dann winkte sie ihn zu sich heran. Die anderen Kinder lachten vergnügt.

Finn ging auf sie zu. Lina grinste und zusammen mit ihren Freunden rannte sie plötzlich los. „Wartet!“, rief Finn und er begann schneller zu werden. Bis er sie schließlich einholte und zusammen mit ihnen der Sonne entgegenrannte. Aus dem Asphalt, den seine Füße gerade noch betreten hatten, wurde eine weiche Blumenwiese. In allen Farben leuchteten sie und dufteten herrlich. Pusteblumen und Mohn, Löwenzahn und Gänseblümchen, Margeriten und Tulpen. Lina machte ein paar Kunststücke und Finn tat es ihr gleich. Er lachte und johlte und freute sich, sie endlich wiederzusehen. Die Sonne brachte besonderen Glanz in ihre Augen. Dort verlor er sich, ganz und gar.

2 Comments

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